Aufgrund unterschiedlicher Witterungsverhältnisse und Wachstumsphasen während einer Vegetations- oder auch Trockenperiode bilden Gehölze sogenannte Jahresringe aus. In gemäßigten Zonen zeigen sich diese als meist konzentrische Zuwachsschichten im Querschnitt des Holzes, die durch periodische Aktivität des Kambiums entstehen. In unseren Breitengraden werden während der Wachstumsphase nach der Winterruhe große und dünnwandige Zellen aus relativ lockerem Gewebe gebildet, die hell und großporig erscheinen und mechanisch nicht sehr fest sind – das sogenannte Frühholz. Dieses ermöglicht dem Baum den schnellenTransport von Wasser und Mineralien von der Wurzel in die Krone, um den Blattaustrieb und die Blütenbildung zu ermöglichen. Später im Jahr werden dickwandigere und kleinlumigere Holzzellen aus wesentlich dichterem Gewebe gebildet, die hauptsächlich stabilisierende Wirkung haben. Die meist dunklere Farbe dieses Spätholzes wird durch den höheren Anteil an Lignin in den Zellwänden verursacht. Im Winter befindet sich der Baum in einer Art Ruhephase. Bei einem gefällten Baum sind die aufeinanderfolgenden Ringe von hellem und dunklem Holz sichtbar. Durch das Zählen der dunklen Ringe erfährt man das Alter des Baumes.
Die Jahrringbreite ist artspezifisch sowie alters-, klima-, witterungs- und standortsabhängig. Je besser die standörtlichen Bedingungen und die klimatischen Bedingungen innerhalb einer Vegetationsperiode sind, desto größer und gleichmäßiger ist der Holzzuwachs und damit die Breite der Jahrringe. Wächst ein Baum dagegen am steilen Hang oder an der Küste bei einseitiger Windeinwirkung, dann ist sein Stammquerschnitt oval, da der Baum sogenanntes Reaktionsholz in Form von Druckholz und Zugholz bildet. Dieses hat eine besondere Struktur und chemische Zusammensetzung, damit der Baum die auf ihn einwirkenden physikalischen Belastungen ausgleichen und die für seine Statik und Stabilität notwendige aufrechte Wuchsform realisieren kann. Auch extreme oder ungünstige Umweltbedingungen wie z.B. anhaltende Trockenzeiten haben Auswirkungen und können dazu führen, dass kein Zuwachs erfolgt. Auf der anderen Seite kann die Zahl der Jahresringe aber auch deshalb vom Alter eines Baumes abweichen, weil dieser innerhalb einer Vegetationsperiode mehr- fach austreibt (z.B. in Form eines Ersatztriebs im Juni, des „Johannistriebs“, zur Kompensation von Frostschäden oder Insektenfraß). Externe Einflüsse wie Insektenbefall und Schälschäden, Fäll- und Rückeschäden sowie Feuer- und Frostschäden führen zudem zu Wundreaktionen des Baumes und sind als „Narben“ innerhalb der Jahresringe immer zu erkennen.
Schnellwachsende Baumarten wie Weiden, Pappeln und Platanen können Jahrringbreiten von mehr als einem Zentimeter pro Jahr aufweisen, Eibe und Wacholder sowie klima- oder standortsbedingt langsam wüchsige Bäume legen dagegen oft nur wenige Millimeter pro Jahr an Durchmesser zu. Dabei gibt es deutliche Unterschiede bezüglich des Verhältnisses von Früh- und Spätholzanteil zwischen Laub- und Nadelholz. Bei Nadelbäumen ist der Frühholzanteil unter günstigen Bedingungen höher als bei schlechten Bedingungen, während der Spätholzanteil wenig variiert. Daher ist schnell gewachsenes Nadelholz weicher als langsamgewachsenes. Laubbäume bilden dagegen eine nur wenig schwankende Menge an Frühholz, dafür variiert der Spätholzanteil.
Das Alter eines nicht gefällten Baumes anhand seines Stamm- durchmessers abzuschätzen, ist nur sehr eingeschränkt möglich, da der Zuwachs von genetischen Faktoren, der Witterung, den standörtlichen und kleinstandörtlichen Bedingungen sowie vom umgebenden Baumbestand abhängt. Wobei es bei Nadelbäumen möglich ist, ihr Alter vergleichsweise genau über die Anzahl der Astquirle am Stamm abzuzählen. Das exakte Alter eines Baumes lässt sich mithilfe einer Bohrkernentnahme bestimmen, wodurch ein exaktes Auszählen der Jahrringe möglich ist. Da Klimaschwankungen nicht nur auf einen einzelnen Baum oder regionale Baumbestände einwirken, sondern großräumig auf alle Waldbestände, bilden diese Bäume ein charakteristisches Jahrringmuster. Sogenannte Dendrochronologen erfassen und vergleichen diese Muster in Jahrringtabellen. Auf diese Weise lässt sich nicht nur das Klima über viele Jahrhunderte zurück rekonstruieren, sondern auch das Alter archäologischer Funde sowie von in Bauwerken oder größeren Holzobjekten verwendeten Hölzern bestimmen (Dendrochronologie). Anhand von Holzproben aus lebenden und abgestorbenen kalifornischen Grannenkiefern, die bis zu 5000 Jahre alt werden können, hat man auf diese Weise für fast 10.000 Jahre zurückliegend die Klimageschichte rekonstruiert.
Bäume werden deshalb oft auch als „Archiv der Natur“ oder „Gedächtnis der Natur“ bezeichnet: „Im Stamm, in ihren Jahresringen, halten sie den Zeitverlauf und das Schicksal eines Ortes fest. Sie erinnern selbst nach hunderten von Jahren mit ihren Jahresringen an Jahreszeiten, klimatische Schwankungen, Erdbeben und vieles mehr. Deshalb waren Bäume und Wälder auch immer Plätze der Erinnerung – sie teilten ihre alten Geschichten mit den Menschen“ (Fischer–Rizzi 2007).
An dieser Stelle setzt die Transfer-Übung „Baumscheiben-Biografie“ an. Denn Bäume, deren Wurzeln tief in die Erde reichen und deren Jahresringe ihre Biografie erzählen, können auch uns inspirieren, uns mehr mit unseren eigenen Wurzeln und unserer biografischen Entwicklung zu beschäftigen. Die Jahresringe eines Baumes sind vergleichbar der Biografie eines Unternehmens, einer Organisation oder einer Person. Sie zeigen unterschiedliche Phasen des Wachstums in Form veränderter Rahmenbedingungen und Anpassungsprozesse: Günstige und das Wachstum fördernde Jahre und Phasen ebenso wie Krisen, Krankheiten, Konkurrenz und Absterbeprozesse. Jüngere Ereignisse im Umfeld des Baumes lassen sich nicht nur in den Jahresringen, sondern oftmals auch ganz konkret im umgebenden Wald erkennen.
Konkret geht es bei der Durchführung der Übung zunächst darum, das gewonnene Gesamtbild der Jahresringe und die auf diesem aufbauende Analyse dafür zu nutzen, eine vergleichbare Analyse für eine reale Situation beruflicher oder privater Art anzuschließen. Diese an einem Baum orientierte und systemisch-ökologisch geprägte Art des Vorgehens trägt dazu bei, sich selbst stärker in organisch-natürliche Wachstums- und Entwicklungsprozesse hineinzuversetzen. Auf diese Weise sensibilisiert diese Art der biografischen Arbeit am eigenen Fallbeispiel auch für ein ganzheitliches Vorgehen, wie es für nachhaltige Entwicklung kennzeichnend ist.
Die Methode „Baumscheiben-Biografie“ korrespondiert teilweise mit den Methoden „Evolutionäre Biografie“, „Ökosystem-Analyse“ und „Ressourcen-Baum“. Im Unterschied zu diesen Methoden geht es bei der hier vorgestellten Übung jedoch darum, sich die früheren und aktuellen, für die eigene Entwicklung relevanten Einflussfaktoren vor Augen zu führen. Und diese sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit auch für die Zukunft als potenzielle „Lebensbegleiter“ zu sehen. Das Ziel dieser Übung besteht also darin, sich möglichst alle fördernden und hemmenden Einflussfaktoren und deren Wirkung auf die eigene Entwicklung bewusst zu machen – und die möglichen Maßnahmen zu identifizieren, mit denen in Zukunft die negativen Einflüsse reduziert und die positiven Einflüsse gefördert werden könnten.