Im Laufe der Evolution haben sich verschiedene Lebewesen an die unterschiedlichsten Lebensräume und Bedingungen angepasst, sie haben sich „eingenischt“. Als „ökologische Nische“ wird die Wechselbeziehung zwischen einer Art und den für diese Art relevanten biotischen und abiotischen Umweltfaktoren bezeichnet. Es handelt sich also nicht um eine räumliche Nische bzw. einen tat- sächlichen Ort. Sondern um die Position, welche die Art in ihrer ökologischen Umgebung einnimmt, um ihre Existenzansprüche sowie um die „Rolle“ bzw. den „Beruf“, den die Art in diesem Beziehungsgefüge spielt.
Indem verschiedene Arten jeweils ihre spezifische ökologische Nische entwickeln, wird das Zusammen- und Überleben in Ökosystemen ermöglicht. Da die ökologische Nische ein unter Berücksichtigung der einwirkenden Umweltfaktoren entwickelter multidimensionaler Funktionsraum jeder einzelnen Art ist, können mehrere Arten weitestgehend vor Konkurrenz geschützt im gleichen Lebensraum nebeneinander koexistieren. Dabei hat keine Art exakt dieselbe ökologische Nische wie eine andere Art, da nach dem Konkurrenzausschlussprinzip nur eine Art eine ökologische Nische besetzen kann. Aber je mehr Überschneidungen es zwischen zwei Arten gibt, desto größer ist die Konkurrenz zwischen ihnen. Bei Konkurrenzdruck weicht die jeweils konkurrenzschwächere Art (falls möglich) auf eine andere ökologische Nische aus und es kommt zu neuen Koexistenzen. Dies ist z.B. durch Modifikation der Nahrungsquellen, der Orte der Nahrungssuche, der Fortpflanzungszeit oder durch zeitliche Entflechtung (Tag-/Nacht-Aktivität) möglich. Gelingt dies nicht und findet sich keine freie oder neue ökologische Nische, kann das Aussterben der konkurrenzschwächeren Art die Folge sein.
Je nachdem, welche Habitat- und Strukturvielfalt ein Ökosystem bietet, ändert sich die Artenanzahl bzw. die Anzahl der möglichen ökologischen Nischen. In extremen Lebensräumen, wie in Wüsten, hohen Gebirgen oder der Antarktis gibt es sehr viel weniger ökologische Nischen, die besetzt werden könnten, als zum Beispiel in Wäldern, im Wattenmeer oder in Streuobstwiesen. Die Tatsache, dass auf Eichen bis zu 2000 verschiedene Tierarten vorkommen können, zeigt die extreme Ausdifferenzierungs-Möglichkeit der artspezifischen ökologischen Nischen. Ökologische Nischen können sich aufgrund von Umfeldveränderungen immer wiederverändern. Stirbt eine Art aus oder wandert ab, vergrößert sich die ökologische Nische. Verschlechtern sich die Lebensbedingungen oder wandern neue oder invasive Arten ein, reduziert sich die ökologische Nische. Meistens sind Spezialisten dabei schneller gefährdet als Generalisten, weil sie speziellere Lebensbedingungen benötigen, während Generalisten im Fall von Veränderungen ein breiteres Reaktionsspektrum haben.
Das bekannteste Beispiel für die Entwicklung ökologischer Nischen sind die Darwin-Finken auf den Galapagos-Inseln. Ausgehend von intraspezifischer Konkurrenz und Futtermangel entwickelten sich durch Wanderbewegungen auf andere Inseln und Schnabelmodifikationen aus einer einzigen Ausgangsart 14 verschiedene Finkenarten. Die Modifikation der ökologischen Nischen und die Ausdifferenzierung von Schnabelbau, Körpergröße und Lebensweise reduzierten die innerartliche Konkurrenz. Gleichzeitig steigerte sich aufgrund der zunehmenden Spezialisierung bei der Nahrungssuche die Ressourceneffizienz.
Auch die zahlreichen unterschiedlichen Watvogelarten im Wattenmeer, die mit unterschiedlichen Bein- und Schnabellängen sowie unterschiedlichen Schnabelformen nebeneinander denselben Lebensraum zur Nahrungssuche nutzen, ohne sich dabei gegenseitig Konkurrenz zu machen, sind ein eindrucksvolles Beispiel für ökologische Nischen. In Wäldern, Gärten und Parks sind es u.a. die Spechte und die Meisen, die sich mit unterschiedlichen Körpergrößen, artspezifischen Habitatpräferenzen, Ernährungsweisen und Brutplatzansprüchen sehr differenziert eingenischt haben. So kommen in Deutschland 10 Specht-Arten und 9 Meisen-Arten vor, die sich oftmals mit mehreren Arten denselben Lebensraum teilen. Auch wenn sie teilweise konkurrieren, stehen sie nie in artgefährdender Konkurrenz zueinander. Auch die 6 verschiedenen, in Mitteleuropa vorkommenden Rohrsänger-Arten haben entlang der Dimensionen Vegetationshöhe, Nestbau-Entfernung vom offenen Wasser und Art der Nahrungssuche alle ihre ökologischen Nischen in Schilfbeständen.
Die Übung „Ökologische Nische“ greift das dargestellte evolutio- näre Prinzip der Einnischung auf. Ziel der Übung ist es, die eigene Nischensituation richtig einzuschätzen, alternative Nischenoptionen zu erkennen und vorausschauend neue Nischen zu identifizieren. Im Sinne einer vorausschauenden Strategieentwicklung ist diese Thematik für nahezu alle Organisationen und Personen relevant, egal ob Global Player, KMUs oder Solo-Selbstständige. Daher findet sich hier neben der Basisvariante A. der Übung („Natur-Symbol“) als Variante B. („Real-Situation“) auch eine Transferübung für real existierende Situationen.
Die besondere Nachhaltigkeitsrelevanz der Übung liegt darin, sich als Teil eines größeren Ökosystems zu verstehen, sich Konkurrenzen zu stellen und Kooperationsoptionen zu nutzen. Dies erfordert ein ökologisch-vernetztes, ganzheitliches und prozessorientiertes Denken und Analysieren. Und den unbedingten Willen, sich dauerhaft in einem dynamischen System behaupten und erfolgreich entwickeln zu wollen.