Die Übung „Wald-Wildnis-Küche“ mag in einem Buch über Nachhaltigkeitsmethoden zunächst etwas überraschen. Seit wann ist denn das Sammeln, Jagen und Kochen im Wald eine Nachhaltigkeitsmethode? Sobald man sich etwas näher mit dieser Frage beschäftigt, wird schnell deutlich: Es gibt wohl kaum etwas Nachhaltigeres als die Selbstversorgung in der Natur. Auch der Mensch ist biologisch gesehen ein „Säugetier“ wie Hirsch, Wolf, Wildschwein, Reh, Dachs, Fuchs, Hase, Eichhörnchen, Siebenschläfer, Mopsfledermaus und Rötelmaus, das Jahrtausende lang in Wäldern gelebt und sich dort ernährt hat. Das Leben der Tiere des Waldes und ihre Ernährung im Wald sehen wir selbstverständlich als absolut natürlich an. Wir würden nie auf die Idee kommen, deren Leben als nicht–nachhaltig zu bezeichnen. Auch wenn wir Menschen unseren Alltag in Mitteleuropa nur noch in seltenen Ausnahmefällen im Wald verbringen, so ist an dieser Stelle doch das Bewusstsein wichtig, dass wir theoretisch auch wieder im Wald leben und überleben könnten, wie die anderen Säugetiere des Waldes auch. Immerhin war Deutschland vor 2000 Jahren zu Zeiten der Römer noch in weiten Teilen bewaldet, sodass damals noch viele Germanen, selbst wenn sie bevorzugt am Rand von Gewässern wohnten, noch sehr vertraut mit der Nutzung des Waldes waren.
Was wir in Zeiten einer hochindustrialisierten Landwirtschaft gern vergessen, ist die Tatsache, dass der Wald noch immer eine der besten und gesündesten Quellen für Nahrungsmittel darstellt. Hier wachsen zahlreiche Baum- und Gehölzarten mit essbaren Früchten, Trieben und Knospen, Sträucher mit wohlschmeckenden Blättern und Beeren, aromatische Blätter und Blüten von Stauden und Kräutern sowie leckere Pilze. Und hier leben Wildtiere, deren Jagd oder Fang sowie Nutzung und Verzehr – bei häufigen und nicht gefährdeten Arten – in der Regel natürlicher, ökologischer, tierschutzgerechter und sinnvoller ist als jede Art von Nutztierhaltung.
Alle höher entwickelten Tiere lassen sich von ihren grundsätzlichen Nahrungsansprüchen her in drei Gruppen einteilen, bei denen es aber teilweise fließende Übergänge gibt. Dasselbe Einteilungsschema wie in der Tierwelt gibt es auch bei den Menschen: Carnivore („Fleischfresser“), Omnivore („Allesfresser“) und Herbivore („Pflanzenfresser“). Dies klärt auch schon, dass niemand zwingend tierisches Eiweiß zu sich nehmen muss, der als Vegetarier oder Veganer leben möchte. Aber es ist wichtig, sich aller natürlich vorhandenen Nahrungsquellen, Nahrungsressourcen und natürlichen Lebensmittel bewusst zu sein.
Der Wald ernährt nicht nur die dort lebenden Tiere, sondern bietet auch für uns Menschen eine Fülle an Lebensmitteln. Die Suche nach Wildkräutern, Wildgemüse, Waldbeeren und Pilzen ist immer mit Bewegung im Grünen und an der frischen Luft verbunden. Sie führt von eingetretenen Pfaden weg, weckt den Entdeckergeist, fördert die Konzentration und Fokussierung und trägt zur Entschleunigung und Entspannung bei. Und lässt beim Suchen und Finden nebenbei oft noch das schöne, an die Ostereiersuche erinnernde Gefühl kindlicher Freude aufkommen. Fast das ganze Jahr über ist es im Wald nicht weit zu verschiedenen Zutaten, aus denen sich abwechslungsreiche und leckere Gerichte zubereiten lassen. Diese eignen sich u.a. für Tees, Gemüse, Salat, Spinat, Suppen, Füllungen, Eintöpfe und Brotbelag sowie fürs Backen, Rösten, Grillen, Einkochen und Würzen. Daneben eignen sich viele Pflanzen auch als Arzneimittel, Heilmittel und Desinfektionsmittel sowie für Umschläge, Tropfen und Tinkturen. Besonders wichtig aber ist der ausdrückliche Hinweis, dass es sowohl geschützte als auch giftige Pflanzenarten und sogar tödlich giftige Pilzarten gibt. Deshalb soll diese Übung nur in Begleitung einer fachkundigen Person durchgeführt werden, die sich mit den naturschutzrechtlichen Bestimmungen auskennt und in der Bestimmung des Sammelguts und der Zutaten zur Wald-Wildnis- Küche erfahren und sicher ist.
Die Waldpflanzen enthalten oftmals ein Mehrfaches an Vitaminen und Mineralstoffen wie entsprechende Kulturpflanzen. Wenn die Naturprodukte an unbelasteten Orten gesammelt werden, die frei von Müll, Altlasten, schädlichen Immissionen, Exkrementen und Pestizidabdrift sind sowie in ausreichender Entfernung zu Straßen und Bahnlinien liegen, haben diese eine maximale Qualität. Die Leckerbissen aus dem Wald übertreffen in diesem Fall Supermarktware nicht nur in Frische und Regionalität, sondern sind auch frei von Pestizidrückständen und Verpackungsmüll. Über dem Feuer geröstete Maronen, in der Pfanne angebratene Bucheckern oder ausgebackene Parasolpilze sind ausgesprochene Leckerbissen. Ein mit frischen Triebspitzen von Tanne, Douglasie oder Lärche aufgebrühter Tee schmeckt geradezu nach Wald. Mit Unterstützung durch einen örtlichen Förster, Jäger oder Angler kann die vegetarische Küche – falls gewünscht – auch noch um Wildfleisch bzw. Fisch ergänzt werden, die sich sowohl über dem Feuer gegrillt, in der Pfanne gebraten, im Topf geschmort oder gekocht bestens im Wald zubereiten lassen.
Im Rahmen der Übung wird der Wald einzeln oder in kleinen Gruppen pirschend nach Genießbarem abgesucht, um die gesammelten Leckereien anschließend gemeinsam zuzubereiten. Am authentischsten und nachdrücklichsten ist das Zubereiten und Kochen natürlich vor Ort an einem offiziellen Feuerplatz im Wald. Dies vermittelt das archaische Gefühl, Teil der Natur zu sein. Falls kein Feuerplatz vorhanden oder die Witterung zu ungemütlich ist, können die Zutaten aber natürlich auch in eine zur Verfügung stehende Waldhütte oder nachhause genommen und in einer Küche gemeinsam zubereitet werden. Auch wenn sich dadurch das Gefühl abschwächt, originärer Bestandteil der Natur zu sein, hat auch diese Variante Vorteile. Sie erspart das Mitbringen zusätzlicher Gerätschaften und Zutaten, die sich nicht im Wald finden lassen, aber die Möglichkeiten des Kochens und Würzens erleichtern bzw. erweitern.
Die Wald-Wildnis-Küche basiert auf einem gezielten und bewussten Nutzen der Natur und ihrer Ressourcen. In Ergänzung zum gemeinsamen Erleben und Genießen im Wald fördert die Übung Naturbezug, Orientierungssinn, Naturkenntnisse, Naturerlebnis, Gemeinschaftssinn und Teambildung. Auch wenn es auf den ersten Blick banal erscheinen mag: Das Suchen, Sammeln, Zubereiten und Verzehren von Naturprodukten im Wald – und selbst das Verdauen und wieder Ausscheiden – entspricht dem natürlichen Stoffkreislauf in einem Ökosystem und ist damit ein Stück erlebter und gelebter Nachhaltigkeit.